d i e   G e d a n k e n   s i n d   f r e i   . . .     

Tessin: oberhalb der Nebelwolken über dem Lago Maggiore (2009)







Die Rechtfertigung

Rasch hatte sich der Saal gefüllt, nachdem die Türen schon vorzeitig geöffnet worden waren. Selbst die oberen Ränge blieben heute nicht unbesetzt. Und bei diesem Andrang, der sich schon lange vor den Eingängen abgezeichnet hatte, hatte man noch in letzter Minute die riesige Leinwand, die nun in der Mitte des Saales von der Decke herabhängt, und auf der das Kamerabild der Redner projiziert werden wird, damit auch die Besucher in den hinteren Reihen die Veranstaltung genauestens verfolgen können werden, heruntergekurbelt. Als die letzten Plätze besetzt und auch die eilig herbeigebrachten Klappstühle verteilt waren, begaben sich die noch immer hereinströmenden Gäste in die Zwischengänge, die hinunter zum Rednerpult führen, und setzten sich auf die Stufen, obwohl man von dort aus kaum etwas sehen von dem was sich unten abspielen werden wird, um die bevorstehenden Reden wenigstens mit anhören zu können.

Manch ein Professor wäre höchst erfreut gewesen, so viele junge, wissenshungrige Menschen vor sich zu haben, um ihnen die geheimnisvollen Zusammenhänge des Universums oder aber die individuellen Eigenschaften unteilbarer Teilchen erklären zu dürfen. Ja sicher befinden wir uns in dem Auditorium Maximum einer Universität, aber es ist keine Vorlesung, in der die weltbewegenden Themen behandelt werden, die uns hier erwartet. Auch sind es keine Studenten, die auf den Plätzen in den Rängen, auf den Klappstühlen oder auf den Stufen der Zwischengänge sitzen. Sie alle, und es mögen wohl mehr als tausend hier anwesend sein, hatten sich zwar beworben um die wenigen Studienplätze dieses neuen, vielversprechenden, von Staat und Wirtschaft geradezu heraufbeschworenen Studienganges. Aber letztendlich durften nur eine Handvoll junger Hoffnungsträger vor wenigen Monaten die traditionellen Feierlichkeiten anlässlich der Immatrikulation miterleben.

Und sie, die etwa 30 Glücklichen, sitzen derweil in einem kleinen Raum, der - durch eine Doppeltür mit dem Hörsaal verbunden - eigentlich nur ein Abstellraum für Anschauungsmaterialen und technische Hilfsmittel ist. Glücklich ist wohl der falsche Ausdruck, schließlich haben sie alle das Hochschulreifezeugnis mit der bestmöglichen Gesamtnote erworben, und das war nun einmal ausschlaggebend nicht zuletzt für ihre Anwesenheit in diesem Raume. Aber das wird heute nicht von Interesse sein. Gleich, wenn man einzeln nacheinander hinaus zum Rednerpult gehen wird, muss man vor all den einstigen Mitbewerbern beweisen, dass kein anderer außer man selbst besser geeignet ist, den Studienplatz zu belegen, und dass kein anderer außer man selbst mehr aus den nun vorhandenen Möglichkeiten zieht und noch ziehen wird, und somit kein anderer außer man selbst sich mehr um die Gesellschaft verdient machen wird.

Dann, irgendwann, vielleicht schon recht bald, wird sich die Doppeltür öffnen. Und nicht nur die Kamera sondern auch hunderte und aberhunderte fragender Augen werden mit einem Male auf sie und die hindurchschreitende Person gerichtet sein.

© Andreas Schröder, 06. Januar 2001

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