d i e   G e d a n k e n   s i n d   f r e i   . . .     

Tessin: oberhalb der Nebelwolken über dem Lago Maggiore (2009)







Ein Plädoyer für Eigenverantwortung

Sozialpsychologie befasst sich damit, welchen Einfluss andere Mitmenschen auf das Verhalten eines Menschen ausüben (können). Gruppenphänomene sind deshalb auch typische Gegenstände sozialpsychologischer Untersuchungen. "Gemeinsam sind wir stark" mag ein allgemein anerkanntes Motto sein. Jedoch zeigen einige Untersuchungen auch, dass Gruppen nicht nur dazu imstande sind, mit vereinten Kräften mehr zu erreichen. Es ist genauso ein Gruppenphänomen, dass eine Gruppe von Personen gelegentlich einzelne Mitglieder der Gesellschaft auf eine unsoziale Art und Weise behandelt, wobei das Unsoziale erst durch das gemeinsame Auftreten zustande kommt. Mobbing oder Rassismus sind sicherlich nur zwei einfache Beispiele für dieses Phänomen. Die negativen Synergien, die sich in den Gruppen entwickeln, werden meiner Ansicht nach allzu oft unterschätzt. Im Zuge dessen bleibt auch unbeantwortet, welche Rolle die einzelnen Gruppenmitglieder dabei spielen. Die immer wieder zu beobachtende Verantwortungsdiffusion in den Gruppen kann letztendlich eine ganze Gesellschaft lähmen. Deshalb möchte ich nachfolgend die Bedeutung der Eigenverantwortung darstellen und auch andeuten, wie eine Stärkung der Eigenverantwortung erreicht werden kann.

Mit dem Ausdruck "fundamentaler Attributionsfehler" bezeichnen Sozialpsychologen den vermeintlichen Umstand, dass bei der Bewertung der Verhaltensweisen anderer Menschen oftmals die individuellen Eigenschaften (internale Attribute) gegenüber den außerhalb des Individuums liegenden Ursachen (externale Attribute) bevorzugt werden. Es scheint plausibler zu sein, dass ein Prüfling seine Prüfung deshalb nicht bestanden hat, weil er zu wenig gelernt hat, als dass der Prüfling die Prüfung deshalb nicht bestehen konnte, weil sie im Monat April stattgefunden hat. Zwar zeigen Experimente wie die von Stanley Milgram und Solomon Asch deutlich, dass Autoritäten und Gruppenzwänge zu ansonsten nicht beobachtbaren und zum Teil unsozialen Verhaltensweisen führen können. Aber sind die Probanden nicht trotzdem von einer Schwäche ihres Charakters gekennzeichnet gewesen, wenn sie - vielleicht weil es einfacher anmutet - die Verantwortung für ihr Handeln von sich schieben? Und ist das Konzept des "fundamentalen Attributionsfehlers" nicht lediglich ein Versuch, diese Verantwortungslosigkeit wissenschaftlich begründet zu legitimieren?

Der Sozialpsychologe Stanley Milgram ließ in einem ethisch umstrittenen Experiment seine Probanden in der Lehrerrolle einen Schüler für Fehler mit Elektroschocks bestrafen (Zumindest ließ er seine Probanden, die den Schüler im Nebenraum nicht sehen sondern nur hören konnten, in dem Glauben.). Dabei musste bei jeder erneuten Bestrafung die elektrische Spannung erhöht werden. Der Versuchsleiter als gespielte Autoritätsperson wies die zweifelnden Probanden trotz der (simulierten) Schmerzen des Schülers darauf hin, dass die Untersuchung es verlange, mit der Bestrafung fortzufahren. Ziel war es letztendlich herauszufinden, wann (bei welcher Spannung) die Probanden sich weigern würden, die Elektroschocks zu verabreichen. Erschreckendes Ergebnis: Fast zwei Drittel der Probanden hörten erst dann auf, als die höchste Voltstufe erreicht war, in Kauf nehmend, den Schüler dabei womöglich schwer verletzt zu haben.

Aber auch ohne Autoritäten, die nebenbei bemerkt nur Autoritäten sind, weil sie von den Mitmenschen als solche betrachtet werden, schieben Menschen die Verantwortung für ihr Handeln von sich. Ein Indiz dafür liefert das Experiment von Solomon Asch, der eigentlich genau das Gegenteil belegen wollte. Eine Gruppe von knapp zehn Personen bekam eine Karte mit unterschiedlich langen Linien vorgelegt. Der Reihe nach wurden alle Personen gebeten, diese Linien mit einer Linie auf einer anderen Karte zu vergleichen und anzugeben, welche Linie genauso lang sei, wie die Vergleichslinie. Allerdings waren bis auf eine Person, dem eigentlichen Probanden, alle angewiesen, eine offensichtlich falsche Linie zu nennen. Ergebnis: Etwa jeder dritte Proband gab der Gruppenmeinung dauerhaft nach, wohingegen nur jeder vierte Proband sich absolut nicht beeinflussen ließ. Der Gruppenzwang - das ergab die Wiederholung des Experiments mit unterschiedlich großen Gruppen - entsteht ab einer Größe von drei Personen (neben dem Probanden). Abgeschwächt wird er allerdings, so wie mindestens eine weitere Person die Meinung des Probanden teilt.

Die Gruppenkonformität im Asch-Experiment lässt sich damit erklären, dass der Proband die persönliche Verantwortung für sein Handeln abgibt und durch eine gemeinsame Verantwortung der Gruppe ersetzt. Nun ist es denkbar, dass sich in vielen realen Gruppen (außerhalb der Experimentalsituation) alle Mitglieder der persönlichen Verantwortung entziehen (möchten). Es entstünde eine Diffusion der Verantwortlichkeit, das heißt niemandem kann eine alleinige Verantwortung zugeschrieben werden. Damit ist die Grundvoraussetzung für die sogenannte Deindividuation geschaffen. Ist die Verantwortlichkeit für eine Handlung nicht mehr klar erkennbar, wächst die Wahrscheinlichkeit für unsoziale Handlungen. Jeder einzelne Passant beispielsweise, der zufällig Zeuge eines Gewaltverbrechens wird oder an einem Unfall vorbeikommt, wird sich überlegen, warum sollte ausgerechnet ich eingreifen bzw. helfen, wenn es schon keiner der anderen, ebenfalls zufällig anwesenden Passanten tut. Mit anderen Worten, soziales Verhalten entsteht nur dann unmittelbar, wenn die Verantwortung individuell zugewiesen werden kann; wahrgenommene Anonymität dagegen kann (muss aber nicht) zu unsozialem Verhalten führen. Die internalen Attribute sind bei letzterem ausschlaggebend.

Neben der Eigenschaft, soziales Verhalten hervorzurufen, schafft Eigenverantwortung aber auch motiviertes Handeln. Die Theorie von den kognitiven Dissonanzen und Konsonanzen (von Leon Festinger) geht davon aus, dass jeder Mensch danach strebt, als Störungen empfundene Dissonanzen abzubauen und konsonant - also im Einklang zu seinen Meinungen, Gefühlen und Werten - zu leben. Wenn also jemand gebeten wird, er/sie solle dieses oder jenes tun, und wenn diese Aufgabe obendrein mit ungewollten Anstrengungen verbunden ist, so liegt bei ihm/ihr eine kognitive Dissonanz vor, die unter anderem durch eine unzureichende Bewältigung der Aufgabe vermindert werden kann. Im Milgram-Experiment beispielsweise wäre die Anstrengung gewesen, die Zufügung von Schmerzen zu stoppen auf Kosten der Autorität des Versuchsleiters, was fast zwei Drittel der Probanden nicht getan haben. Würde nun eine Entscheidung, eine bestimmte Aufgabe in Angriff zu nehmen, eigenverantwortlich gefällt, so würden kognitive Dissonanzen nur bei unzureichender Bewältigung der Aufgabe (was im ersten Falle ja noch Konsonanzbestreben bedeutete) entstehen. Diese Umkehrung von dissonanten in konsonante Aufgaben entsteht vermutlich auch dann, wenn die eigenverantwortlich gefällte Entscheidung identisch mit einer ansonsten vorgesetzten Entscheidung ist. Ergo Eigenverantwortung schafft Motivation.

Wenn nun die Eigenverantwortung soziales Verhalten und motiviertes Handeln mit sich bringt und beide Dinge durchaus positiv anzusehen sind, so stellt sich die Frage, wie stärkt man die Eigenverantwortung der Menschen. Die Antwort sollte jedem Leser, der es bis hierher durchgehalten hat, eigentlich klar sein: Abschaffung von unsinnigen, zumeist zentralen gesellschaftlichen Positionen, deren Inhaber überwiegend als Autoritäten angesehen werden, Verkleinerung der Entscheidungs- und Verantwortungsgremien auf maximal drei Personen sowie Ersetzen von Ver- und Geboten durch den Zwang zum eigenverantwortlichen Entscheiden und Handeln (auch Freiheit genannt). Die Konditionen eines Arbeitsvertrages müssen nicht von einer Gewerkschaft ausgehandelt werden; dazu reicht der vor Ort vorhandene Betriebsrat oder - noch besser - jeder einzelne mündige Arbeitnehmer aus. Unsere Gesellschaft braucht keinen Papst, der die Abtreibung verbietet; zukünftige Eltern können sich selbstständig dazu durchringen, das ungeborene Kind zur Welt zu bringen. Die Führung eines Unternehmens oder eines Staates sollte aus Gründen der Effizienz höchstens drei Entscheidungsträger umfassen; "runde Tische" sind Verschwendungen von Ressourcen, zumal die oft faulen Kompromisse lediglich zum sogenannten sozialen Bummeln beitragen...

Diese Liste ließe sich um hunderte Beispiele ergänzen, was ich an dieser Stelle dem Leser überlassen möchte. Wichtig erscheint mir jedoch deutlich zu machen, was sozialpsychologische Untersuchungen aufzeigen: Menschen neigen dazu, ihr Handeln von anderen Mitmenschen bestimmen zu lassen und im Zuge dessen die Verantwortung für ihr Handeln abzugeben; je größer die Gruppe, desto größer der Gruppendruck und desto diffuser die Verantwortlichkeit. Aber auch die freiwillige Unterordnung unter (als solche betrachtete) Autoritäten, insbesondere unter die, die - aus welcher Motivation heraus auch immer - meinten, man müsse andere Menschen unsozial behandeln, führt geradewegs zu unsozialen Handlungen, die nicht nur in einzelnen Fällen sondern weit in der Gesellschaft verbreitet sichtbar sind. Dagegen führt einzig und alleine die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln zu einem sozialeren Miteinander.

© Andreas Schröder, April 2004

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