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Graubünden: Wasserfall im Albulatal (2014)







Sören Kierkegaard
"Die Verzweiflung der Endlichkeit
besteht im Mangel der Unendlichkeit"

(aus "Die Krankheit zum Tode",
herausgegeben von Thomas Sören Hoffmann auf der Grundlage der Übersetzungen von Christoph Schrempf und Hermann Gottsched)


Mangel der Unendlichkeit ist verzweifelte Begrenztheit, Borniertheit. Dabei ist natürlich nur in ethischem Sinn von Borniertheit und Beschränktheit die Rede. In der Welt redet man eigentlich nur von intellektueller oder ästhetischer Beschränktheit oder von dem Gleichgültigen, von dem ja in der Welt immer am meisten die Rede ist, denn Weltlichkeit ist ja eben, dem Gleichgültigen unendlichen Wert beilegen. Die weltliche Betrachtung klammert sich immer an die Unterschiede zwischen Mensch und Mensch, hat ganz natürlich für das eine Notwendige kein Verständnis (denn das zu haben ist Geist), und daher auch kein Verständnis von Beschränktheit und Borniertheit, sich selbst verloren zu haben, nicht durch Verflüchtigung ins Unendliche, sondern dadurch, dass man ganz endlich wird und, anstatt ein Selbst zu sein, eine Zahl, ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr in diesem ewigen Einerlei geworden ist.

Die verzweifelte Borniertheit ist Mangel an Ursprünglichkeit, oder dass man sich seiner Ursprünglichkeit beraubt hat, sich in geistigem Sinn selbst entmannt hat. Jeder Mensch ist nämlich ursprünglich als ein Selbst angelegt, mit der Bestimmung, er selbst zu werden, und freilich ist jedes Selbst als solches eckig, aber daraus folgt bloß, dass es zugeschliffen, nicht, dass es abgeschliffen werden soll, nicht, dass es aus Menschenfurcht ganz aufgeben soll, es selbst zu sein, oder auch nur aus Menschenfurcht nicht wagen darf, in seiner wesentlicheren Zufälligkeit (die gerade nicht abgeschliffen werden soll) es selbst zu sein, in welcher ein Mensch doch er selbst für sich selbst ist. Während sich aber eine Art von Verzweiflung in das Unendliche verirrt und sich selbst verliert, lässt sich eine andere Art Verzweiflung gleichsam ihr Selbst von 'den Andern' ablocken. Indem ein solcher Mensch die Menge Menschen um sich sieht und mit allerhand weltlichen Dingen zu tun bekommt, indem er sich darauf verstehen lernt, wie es in der Welt zugeht, vergisst er sich selbst, wie er, göttlich verstanden, heißt, darf sich nicht auf sich selbst verlassen, findet es gewagt, er selbst zu sein, und viel leichter und sicherer, wie die Andern zu sein, eine Nachäffung, eine Nummer mit in der Menge zu werden.

Auf diese Form der Verzweiflung wird man in der Welt so gut wie gar nicht aufmerksam. Ein solcher Mensch hat gerade dadurch, dass er sich so selbst aufgab, Gewandtheit gewonnen, in Handel und Wandel recht mitzulaufen, ja Glück in der Welt zu machen. Hier bereitet ihm sein Selbst und dessen Streben nach Unendlichkeit keine Verzögerung, keine Schwierigkeit; er ist abgeschliffen wie ein Kieselstein, kurant wie eine gangbare Münze. So wenig hält ihn jemand für verzweifelt, dass er gerade für einen Menschen gilt, wie sich's gehört.

Die Welt hat überhaupt, wie natürlich ist, für das wahrhaft Schreckliche kein Verständnis. Die Verzweiflung, die nicht nur keine Ungelegenheit im Leben verursacht, sondern einem das Leben bequem und behaglich macht, wird natürlich durchaus nicht als Verzweiflung angesehen. Dass dies die Ansicht der Welt ist, sieht man unter anderem auch beinahe aus allen Sprichwörtern, die nur Klugheitsregeln sind. So sagt man, dass man zehnmal bereue geredet zu haben für einmal, wo man geschwiegen hat, und warum? Weil einen das Reden als ein äußeres Faktum in Unbehaglichkeiten verwickeln kann, da es eine Wirklichkeit ist. Aber geschwiegen zu haben! Und doch ist dies das Allergefährlichste. Denn beim Schweigen bleibt der Mensch allein sich selbst überlassen; hier kommt ihm die Wirklichkeit nicht zu Hilfe, indem sie ihn straft, indem sie die Folgen seiner Rede über ihn bringt. Nein, in dieser Hinsicht ist es leicht gemacht, wenn man schweigt. Aber darum fürchtet der, welcher weiß, was das Schreckliche ist, gerade am meisten jeden Missgriff, jede Sünde, die ihre Richtung nach innen nimmt und keine Spur im Äußeren hinterlässt.

So ist es in den Augen der Welt gefährlich zu wagen, und warum? Weil man dabei verlieren kann. Aber nicht wagen, das ist klug! Und doch kann man, wenn man nicht wagt, gerade so schrecklich leicht das verlieren, was man doch schwerlich verliert, wieviel man auch beim Wagen verlieren kann, und auf jeden Fall nie so, nie so leicht, so ganz als wäre es nichts, verliert - nämlich sich selbst. Denn habe ich verkehrt gewagt, nun wohl, so hilft mir das Leben mit seiner Strafe. Habe ich aber gar nicht gewagt, wer hilft mir dann? Und wenn ich dadurch, dass ich im höchsten Sinne gar nicht wage (und im höchsten Sinne wagen heißt gerade auf sich selbst aufmerksam werden), obendrein feige alle irdischen Vorteile gewinne - und mich selbst verliere?

Und so ist es gerade mit der Verzweiflung der Endlichkeit. Weil ein Mensch so verzweifelt ist, darum kann er ganz gut und eigentlich gerade desto besser in der Zeitlichkeit dahin leben und, wie es scheint, ein Mensch sein, von Andern gepriesen, angesehen und geehrt, mit allen Aufgaben der Zeitlichkeit beschäftigt. Ja, was man eben die Welt nennt, besteht aus lauter solchen Menschen, die sich sozusagen der Welt verschreiben. Sie gebrauchen ihre Gaben, sammeln Geld, treiben weltliche Geschäfte, berechnen klug usw. usw., werden vielleicht in der Geschichte genannt, aber sie selbst sind sie nicht, sie haben im geistigen Sinn kein Selbst, kein Selbst, um dessentwillen sie alles wagen könnten, kein Selbst vor Gott - wie selbstisch sie auch sonst sein mögen.

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